Reisen bildet.
Diese Erkenntnis ist nicht wirklich neu, eigentlich sogar total abgedroschen und auch nicht immer korrekt: wer 14 Tage am Hotel-Pool nur Bierchen trinkt, bei dem wird es mit der Bildung wahrscheinlich eher nix.
Richtig ist aber: Reisen ist eine prima Gelegenheit um zu überprüfen, ob das eigene Weltbild mit der Realität übereinstimmt – oder eben nicht.
Schon einmal, nämlich in Marokko, war ich ziemlich überrascht, wie völlig verschwurbelt mein Bild einer ganzen Region war. Einzelne schlechte Erfahrungen, gespickt mit tendenziöser medialer Berichterstattung – und schon meint man, man hätte mächtig Ahnung, liegt in Wirklichkeit aber ziemlich daneben.
Das man aus solchen, falschen Weltbildern nicht einfach herausfindet, liegt übrigens an einer Besonderheit unseres Gehirns bzw. unserer Wahrnehmung, dem so genannten „confirmation bias“.
Dieser Denkfehler ist tückisch: denn das Gehirn sorgt dafür, dass wir überwiegend solche Informationen wahrnehmen, die in unser Weltbild und zu unseren aktuellen Interessen passen. Bewusst erlebt hat das bestimmt jeder schon einmal: ist die Frau schwanger, sieht man plötzlich überall junge Familien mit Kinderwagen. Plant man ein Wohnmobil zu kaufen, sind die Straßen plötzlich voll mit Wohnmobilen.
Die jungen Familien und die Wohnmobile waren natürlich schon vorher da – man hat sie aber einfach nicht wahrgenommen. Weil sie nicht von Interesse waren.
Das wäre alles nicht schlimm. Der confirmation bias treibt jedoch sein Unwesen auch in Bezug auf unsere Weltbilder.
Derjenige, für den die Welt ein bedrohlicher Ort ist, findet an jeder Ecke Bestätigung für diese Einschätzung: Klimawandel, Flüchtlingskrise, Donald Trump, Iran, kriminelle Clans, Dioxin im Ei, der FC Bayern ist seit sieben Jahren ununterbrochen Deutscher Meister.
Oh je, oh je, oh je.
Bei dem, der die Welt für einen guten Ort hält, ist es genau umgekehrt: wir haben seit nahezu 70 Jahren Frieden in der EU, niemals gab es auf der Welt so wenig arme Menschen wie heute, der sauere Regen ist abgeschafft, man kann im Rhein wieder schwimmen und Flugzeuge verbrauchen 50% weniger Sprit als vor 20 Jahren.
Gar nicht übel.
Dennoch wird jeder von uns in der ein oder anderen negativen Filterblase stecken.
Ein schönes Beispiel für eine solche negative Filterblase sind die Länder des ehemaligen „Ostblocks“: irgendwie kalt und unheimlich sei dort, so hört man. Außerdem seien die meisten Menschen Alkoholiker und/ oder neureiche Proleten, die sich an unseren schönsten Urlaubsdestinationen nicht zu benehmen wissen.
Selbst das Wetter aus dem Osten ist böse. Unvergessen die legendäre „Russenpeitsche“, mit der nicht nur das Boulevard gerne hausieren geht. Die Nachricht ist klar: alles, was aus dem Osten kommt, ist schlecht.
Der Weg aus der Filterblase heraus ist, was Länder und Regionen angeht, relativ simpel: einfach mal hinfahren!
Seit Jahren bereisen Freunde von uns immer mal wieder die Länder des ehemaligen Ostblocks, z.B. Russland, Rumänien, die Ukraine oder Georgien. Und man glaubt es kaum: es scheint schön dort zu sein. Erstaunlich viele nette Menschen, vielfach sogar außergewöhnlich höflich, großartige Natur, reiche Kulturschätze, gutes Essen.
Nun ergab es sich zum Ende unseres Sabbaticals, dass wir hoch im Norden auf den Lofoten unterwegs waren und irgendwie zurück mussten. Da die norwegischen nationalen Valium-Vorräte nicht ausgereicht hätten, um mich für eine Fahrt von den Lofoten zurück über die norwegische E6 ausreichend emotional zu stabilisieren, war die Entscheidung schnell gefallen: durch Schweden und Finnland sollte es gehen und dann durchs Baltikum.
Um es kurz zu machen: es war großartig im Baltikum. Tolle Natur, viele freundliche, sehr herzliche Menschen und, was ich gar nicht auf dem Schirm hatte, hervorragendes Essen. Selten haben wir zum Beispiel so konstant auf hohem Niveau gegessen wie in Tallin. Zwei Highlights seinen hier kurz erwähnt: das russische Restaurant Moon sowie das grandiose Rataskaevu 16. Doch auch ganz allgemein ist die baltische Küche sehr attraktiv.
Ein gutes Beispiel dafür ist das heutige Rezept, die Šaltibarščiai.
Die kalte Rote Bete-Suppe gibt es nahezu an jeder Ecke. Sie wird von Jung und Alt gleichermaßen geliebt und in rauen Mengen verspeist.
Ich kann das gut verstehen, denn sie ist schnell zubereitet, gut vorzubereiten und extrem variabel. Bei heißem Wetter ist die Suppe köstliche Mahlzeit und willkommene Abkühlung in einem. Bei kälterer Witterung gibt es heiße Kartoffeln dazu.
Was will man mehr?
Noch fünf kleine Hinweise…
- Traditionell wird die Šaltibarščiai mit gekochten Kartoffeln als Beilage serviert. Das ist grundsätzlich lecker aber nicht verpflichtend 🙂
- Dieses Rezept beinhaltet ein „2.0“ deshalb, weil wir die traditionelle Einlage um kleine Apfelwürfel ergänzt haben. Die kommen im Original nicht vor. Der Apfel passt aber super, denn er ergänzt die Suppe wunderbar um eine fruchtige Komponente. Zumal Apfel und Rote Bete zusammenpassen wie Pott auf Deckel. Wer es trotzdem klassisch haben möchte, der lässt den Apfel einfach weg.
- Bitte, bitte, bitte: nehmt keine gekaufte Bete! Das ist nicht halb so lecker.
- Bitte, bitte, bitte: kocht die Bete nicht, schmeißt sie in den Backofen. Der Geschmack der Rote Bete kommt zu einem großen Teil über die Süße. Im Wasser gibt die Bete aber jede Menge Zucker ans Wasser ab. Das ist schlecht! Außerdem entwickeln sich beim Kochen keine Röstaromen.
- Die Šaltibarščiai gibt es nicht nur in Estland sondern in vielen Ländern Osteuropas. Tallinn steht hier lediglich stellvertretend im Titel.
Šaltibarščiai 2.0
Zutaten
- 2 große Rote Bete-Knollen
- 1 Gartengurke
- 1/2 Apfel, z.B. Pink Lady oder Braeburn
- 1 Frühlingszwiebel
- 4 Eier, hartgekocht und abgeschreckt
- 1 Liter Kefir
- Salz, Pfeffer
- 1 Bund Dill
Anleitungen
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Die Rote Bete-Knollen einzeln in Alu-Folie einwickeln und bei ca. 175 Grad für ungefähr zwei Stunden im Backofen garen. Etwas abkühlen lassen und dann schälen.
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Die Gartengurke schälen und entkernen, den Apfel waschen und vom Kerngehäuse befreien.
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Rote Bete, Gurke und Apfel fein würfeln (Alternativ kann man auch eine Raspel nehmen. Dann wird die Suppe in bisschen rustikaler).
Die Frühlingszwiebeln in dünne Ringe schneiden, den Dill fein hacken und zwei Eier grob Würfeln. Die anderen beiden Eier längs halbieren.
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Bete, Gurke, Apfel, Frühlingszwiebeln, Dill und Eier mit dem Kefir mischen. Das Ganze gut durchrühren und mit Salz und Pfeffer abschmecken. Mit jeweils einem halben Ei und etwas Dill garnieren und kalt servieren.
4 Comments
Andree
28. August 2019 at 13:33„wir haben seit 70 Frieden in Europa“
Dieses Märchen ist nicht auszurotten. 1999 begann die NATO einen völkerrechtswidrigen Krieg gegen Jugoslawien. Dass er völkerrechtswidrig war, musste Ex-Kanzler Schröder zugeben.
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Bei der Suppe dürfte es sich um eine Borstschableitung handeln, oder? Nur ohne Brühe.
Ola
31. August 2019 at 10:20Sieht total appetitlich aus!
Oliver
2. September 2019 at 7:43@ Ola: vielen Dank 🙂
@ Andree: ja, die Šaltibarščiai scheint einer kalten Borschtsch sehr ähnlich zu sein. Bei den „70 Jahren Frieden“ hast Du Recht. Die Zahl bezieht sich tatsächlich auf die EU und nicht auf ganz Europa. Ich habe das geändert, bin mir allerdings bewusst, dass die EU/ Europa-Unterscheidung etwas spitzfindig ist. Es ist immer wieder erstaunlich bzw. beunruhigend, wie schnell man Narrative aus den Medien übernimmt ohne sie anständig zu hinterfragen. Insofern: Danke für den Hinweis!
Ona
4. September 2019 at 20:58Saltibarsciai,bedeutet auf litauisch „kalter Borschtsch“…Und ist traditionelle litauische Suppe,nicht estnische.Na ja,hast Du in Tallinn litauische Suppe gegessen? Dann hiess die auch anders…